Allein unter Salafisten

Foto: Port au Prince Pictures

Für die Oscar-nominierte Doku „Of Fathers and Sons“ hat der in Berlin lebende Regisseur Talal Derki zwei Jahre undercover bei einer radikalislamistischen Familie in Syrien verbracht.

heute.de: Sie haben sich als Kriegsreporter und Salafisten-Anhänger ausgegeben – und in große Gefahr begeben. Was war Ihr Antrieb dazu?

Talal Derki: Die Verbindung zu meinem Leben, meiner Heimat. Ich wollte verstehen, wie Al-Kaida die Gesellschaft manipuliert und die junge Generation einer Gehirnwäsche unterzieht. Wie aus unschuldigen Kindern durch Erziehung und Ausbildung ‚Gotteskrieger‘ werden. Dazu gab es nur den Weg, diese Erfahrung mit den Menschen, die sie machen, zu teilen.

heute.de: Wie haben Sie den al-Nusra-Rebellenführer Abu Osama, bei dessen Großfamilie Sie gewohnt haben, kennengelernt – und wie sein Vertrauen gewonnen?

Derki: Ich war in Syrien, um meine Protagonisten-Familie zu recherchieren. Mein Kameramann entdeckte Osama (13) in einem Scharia-Militärcamp. Ich erzählte einem Al-Kaida-Führer, dass ich einen Film über die Macht und den Ruhm der Salafisten in Syrien drehen wolle, und wie sie die nächste Generation vorbereiteten. Der Mann kannte den Vater des Jungen und führte uns zusammen. Ich verhielt mich wie ein Schüler und Bewunderer, um ihn von meinem Plan zu überzeugen. Und verheimlichte natürlich alles über meine Person.

heute.de: Hatten Sie keine Angst, sich so tief in so radikale Kreise zu begeben?

Derki: Doch, ständig. Hätten sie meine Identität und mein Vorhaben herausgefunden, hätten sie mich sofort umgebracht. Auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland bin ich diese Angst nicht losgeworden. Ich befürchte immer, dass plötzlich ein Auto kommt, und ich entführt werde. Vielleicht werden sie mich für den Rest meines Lebens jagen.

heute.de: Seit wann ist den Dschihadisten Ihre wahre Identität bekannt?

Derki: Seit der Film ab Ende 2017 bei Festivals gezeigt wurde. Als ich die ersten Interviews gab, erfuhren sie mehr und mehr darüber. Und wurden wütender und wütender und bedrohten mich per Mail: Wir kommen, dich zu holen.

heute.de: Gab es in Syrien mal einen Moment, in dem Sie fürchteten, aufzufliegen?

Derki: Immer dann, wenn wir fremde Kämpfer trafen. Darunter waren oft Leute, die niemandem trauten. Es war jedes Mal schwierig, sie zu überzeugen, dass ich ein Kriegsjournalist auf ihrer Seite sei. Mein Kameramann war zum Glück sehr religiös, den habe ich immer vorgeschoben.

heute.de: Haben Sie vor Ihrer Abreise nach Syrien Ihr komplettes digitales Ich gelöscht?

Derki: Ich hatte in Interviews zum Glück nie etwas Antireligiöses gesagt. Ich musste also nur Postings in sozialen Medien löschen – Fotos, die mich mit Frauen oder Alkohol trinkend zeigten. Ich war auch zwischendurch mal in Berlin und hatte dann ein starkes Bedürfnis, auszugehen und zu feiern – musste aber extrem aufpassen, dass dabei keine Bilder von mir entstanden. Umgekehrt musste ich auf der Hut sein, dass in Syrien keine Fotos von mir und al-Nusra gemacht wurden, sonst hätte ich in Deutschland ein Problem gehabt. Es war ja nicht bekannt, dass ich dort diesen Film drehe.

heute.de: Wie sah Ihr tägliches Leben mit Abu Osamas Familie aus?

Derki: Ich musste fünf Mal am Tag beten. Das war für einen nichtreligiösen Mann wie mich sehr hart, es hat mich psychologisch fast gebrochen. Aber genau das war mein Ziel: Diese Erfahrung zu machen, um zu verstehen, wie die Gehirnwäsche funktioniert.

heute.de: Wie sind Sie in Kontakt mit Ihrer Frau in Berlin geblieben?

Derki: Wir hatten Satelliteninternet, ich konnte telefonieren und Whatsapp nutzen. Ich musste nur immer alles sofort löschen. Ich habe jeden Tag mit meiner Frau gesprochen, schickte ihr Namen von Personen, Orten und Fotos. Wäre mir etwas passiert, hätte sie gewusst, wo ich zuletzt mit wem war.

heute.de: Haben Sie trotz aller Differenzen persönliche Beziehungen aufgebaut?

Derki: Ich liebte die Kinder. Sie sind Opfer, sie haben keine Ahnung, wie die Welt außerhalb ihres begrenzten Umfelds aussieht. Ich konnte aber nicht eingreifen. Das hätte ihnen nichts genützt und mich in Gefahr gebracht. Ich musste akzeptieren, dass dies ihre Familie, ihre Gesellschaft, ihr Weg ist. Ihr Vater hat sie für ein Leben im Kalifat vorgesehen.

heute.de: Macht Sie das pessimistisch, wie es mit Ihrem Heimatland weitergehen wird?

Derki: Der Radikalismus nimmt zu und wird gefährlicher – gerade in diesem Moment. Und ich sehe keinen ausreichenden politischen Willen, diesen Krieg, und was in Syrien passiert, zu beenden.

„Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats“

Talal Derki drehte seinen Dokumentarfilm zwischen Sommer 2014 und September 2016. Während dieser Zeit verbrachten er und sein Kameramann Kahtan Hasson mehr als 300 Tage mit der Familie Abu Osamas. Daraus entstanden tiefe Einblick in eine sonst hermetisch abgeriegelte Welt. Abu Osama starb im Oktober 2018 beim Entschärfen einer Autobombe. Er hinterließ zwei Ehefrauen und zwölf Kinder. „Of Fathers and Sons“ Film lief auf rund 100 Festivals weltweit und kommt am 21. März 2019 in die deutschen Kinos. Beim Sundance Film Festival wurde er mit dem World Cinema Documentary Grand Jury Prize geehrt. Bei der Oscar-Verleihung am 24. Februar geht er ins Rennen um den Preis für den besten Dokumentarfilm.

Talal Derki…
… wurde 1977 in Damaskus geboren und lebt seit 2014 in Berlin. Er studierte Regie in Athen und arbeitete zunächst als Regieassistent an Spielfilmproduktionen mit. Bevor er eigene Filme drehte, war er als Regisseur für arabische Fernsehprogramme und als freiberuflicher Kameramann für CNN und Thomson & Reuters im Einsatz. 2013 dokumentierte er in „Homs – Ein zerstörter Traum“ den Bürgerkrieg in Syrien.

Veröffentlicht auf heute.de am 24. Februar 2019.