Das Armutsproblem spitzt sich zu

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Im reichen Deutschland sind immer mehr Menschen arm: 2021 waren es rund 14 Millionen Menschen, das sind 16,9 Prozent der Bevölkerung. Darunter sind zunehmend auch Erwerbstätige. Fachleute fordern, Bedürftige stärker zu unterstützen und Vermögende mehr zur Kasse zu bitten.

Diesen und nächsten Monat wird es bei Anni W. finanziell eng, richtig eng. „Statt Mittagessen gibt es dann für mich wohl einfach nur eine Scheibe Brot – oder gar nichts“, sagt die 40-Jährige, die in der Nähe des Niederrheins lebt. Verzicht ist ihr Alltag: Im Supermarkt kauft sie die Sonderangebote, Schuhe gibt es nur vom Flohmarkt, und beim Friseur war sie zuletzt 2016. „Ich gönne mir nichts.“ Nur beim täglichen Obst und Gemüse für ihre beiden Kinder wird nicht gespart. Trotzdem beginnt gerade schon Mitte des Monats die „Nullrunde“ auf dem Konto. Eine medizinische Privatrechnung hat den sorgfältig durchgerechneten Plan kaputtgemacht.

Anni W. ist seit Jahren chronisch krank, leidet an Depressionen und Arthrose. Sie möchte das Abitur nachmachen und Sozialarbeit studieren, derzeit ist das gesundheitlich aber noch unmöglich – ebenso wie das Arbeiten. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern bezieht Bürgergeld. „Vor einem Jahr wäre ich in der jetzigen Situation noch am Heulen gewesen, heute sehe ich es lockerer.“ Der Grund: Im Mai 2022 schrieb sich Anni W., alias @Finkulasa, bei Twitter spontan von der Seele, was sie wütend machte: nämlich wie arme Menschen als Drückeberger oder Schlimmeres stigmatisiert werden. Sie bekam haufenweise Zuspruch.

Seit ihrem Tweet schilderten unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen Tausende ihre Geschichten darüber, wie steigende Mieten, Energiepreise und Lebenshaltungskosten dazu führen, dass das Geld hinten und vorn nicht reicht, wie groß die Angst ist, dass die Waschmaschine kaputtgehen könnte, und wie sie sich immer mehr aus der Gesellschaft zurückziehen.

14,1 Millionen Menschen sind arm – darunter auch Mittelschichtfamilien und Erwerbstätige

Die Bewegung zeigt: Es geht nicht mehr um Einzel-fälle. Der Paritätische Gesamtverband legte im März 2023 die überarbeitete Neuauflage seines Paritätischen Armutsberichts 2022 vor: Demnach betrug die Armutsquote 16,9 Prozent, das sind 14,1 Millionen Menschen – 600.000 mehr als im Vorjahr und 840.000 mehr als vor Corona. „Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch“, sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider in einer Presseerklärung. 2020 führten diverse Maßnahmen von Bund und Ländern dazu, dass die Armut trotz des wirtschaftlichen Einbruchs und steigender Arbeitslosigkeit nur moderat wuchs. Dieser Effekt ist nun verpufft.

„14 Millionen Menschen sind keine Randgruppe mehr“, betont der Kölner Politikwissenschaftler Professor Dr. Christoph Butterwegge. „Das Armutsproblem spitzt sich zu.“ Zunehmend gehörten auch Mittelschichtfamilien und Erwerbstätige dazu – etwa Selbstständige, die in der Coronapandemie große Einbußen erlitten und im Paritätischen Armutsbericht 2022 jetzt 13 Prozent ausmachen. „Eine gute Ausbildung ist weder ein Wundermittel gegen Armut noch eine Garantie für Wohlstand“, sagt der Armutsforscher. Laut Bericht hat die Hälfte aller Armen ein mittleres Qualifikationsniveau, 13,9 Prozent sogar ein hohes. Und auch im Bildungsbereich selbst gibt es ein Armutsrisiko – etwa in der Weiterbildung, wo die Arbeitsverhältnisse freiberuflicher Lehrkräfte oft prekär sind. „Da ist man immer nur einen Unfall oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt“, sagt Christoph Butterwegge.

Armutsbericht zeigt alarmierende Zahlen und Ruhrgebiet bleibt Problemregion
Nummer eins

Der (kursiv) Paritätische Armutsbericht 2022 offenbart weitere alarmierende Zahlen: Die Armut unter Kindern und Jugendlichen stieg auf 21,3 Prozent, die von Alleinerziehenden auf 42,3 Prozent. Bei Paarhaushalten mit drei und mehr Kindern liegt sie bei 32,2 Prozent. Laut Paritätischer Forschungsstelle sind zudem 30 Prozent aller Studierenden von Armut betroffen.

Fünf Bundesländer weisen sehr hohe Armutsquoten auf: Neben Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Bremen gehört auch Nordrhein-Westfalen dazu. Hier liegt die Armutsquote bei 19,2 Prozent. Problemregion Nummer eins bleibt das Ruhrgebiet mit seinen 5,8 Millionen Einwohner*innen. Mehr als jede*r Fünfte dort lebt in Armut, mit 22,9 Prozent ist fast jedes vierte Kind auf Hartz IV angewiesen.

Als von relativer (Einkommens-)Armut betroffen gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Dieser Wert liegt aktuell bei monatlich 1.145 Euro für Alleinstehende und bei 1.489 Euro für eine Mutter mit einem Kind unter 14 Jahren. „Wenn Sie davon die Warmmiete in einer Großstadt abziehen, ist mindestens die Hälfte weg“, sagt Christoph Butterwegge. Eine Partizipation am sozialen und kulturellen Leben sei dann kaum mehr möglich. „Ausgehen oder Leute treffen tue ich nie“, sagt Anni W.

Steigende Armutsquote ist auch Folge der Pandemie – aber nicht nur

Die Gründe für die steigende Armutsquote liegen zum Teil in den Folgen der Pandemie: „Die Bemühungen der Bundesregierung waren ganz auf den Erhalt von Beschäftigung ausgerichtet. So gut wie nichts passierte jedoch für die Personen, die sich bereits in Armut und insbesondere im Bezug von Hartz IV oder Altersgrundsicherung befanden“, steht im Paritätischen Armutsbericht 2022. Weder wurden die Grundsicherungsleistungen angehoben noch Menschen unterstützt, die ihre geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse verloren.

Durch die hohen Energiepreise und die steigende Inflation vertieft sich Armut aktuell weiter. Mittels Grundsicherung, Wohngeld oder BAföG könne das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum nicht mehr erreicht werden, kritisiert der Paritätische Gesamtverband. Der Ansturm auf Lebensmitteltafeln, Pfandleihhäuser und Schuldner*innenberatungsstellen werde weiter zunehmen, prognostiziert Christoph Butterwegge. Not und Elend könnten auch öffentlich sichtbarer werden: Mit steigenden Nebenkosten werde es mehr Zwangsräumungen und folglich mehr Wohnungslose geben – also auch mehr Menschen, die betteln, Flaschen sammeln oder Straßenzeitungen verkaufen. Die verborgene Armut werde ebenfalls steigen, weil auch Menschen, deren Einkommen über der Risikoschwelle liege, ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr decken könnten.

Schuld sind nach Ansicht des Politikwissenschaftlers indes nicht nur die Pandemie und die Inflation: „Wenn sich politisch nichts ändert, wird die Armutsrisikoquote weiter steigen“, betont er. Der Sozialstaat sei in der Vergangenheit nicht weiterentwickelt, sondern abgebaut worden – Stichworte Hartz IV und Riester-Rente. Beim Wohnen explodierten die Kosten, weil der soziale Wohnungsbau gegen die Wand gefahren worden sei. „Armut fällt nicht vom Himmel, sondern wird politisch erzeugt.“

Dass sich die soziale Ungleichheit verstärke, habe auch gesellschaftliche Folgen: „Das soziale Klima wird rauer und es findet eine Entsolidarisierung der Gesellschaft statt. Das birgt auch Gefahren für die Demokratie.“ Die Geschichte habe mehrfach gezeigt: „Wenn die Mittelschicht Angst bekommt, aus der Komfortzone herauszufallen, führt sie das politisch immer nach rechts oder sogar rechts außen“, so Christoph Butterwegge.

Forderungen nach zielgerichteter Hilfe für einkommensarme Haushalte

Niedrige Einkommen sind für den Experten aber nur eine Seite des Problems. „Die andere ist privater Reichtum und die Konzentration von Vermögen“, erklärt der Politikwissenschaftler und fordert ein gerechteres Steuersystem. „Man müsste oben stärker zugreifen.“ Einkommensstarke und vermögende Menschen sollten mehr Verantwortung übernehmen, ohne ihren Lebensstandard einschränken zu müssen. Denkbar wäre für ihn eine Abgabe von zehn Prozent gestreckt auf fünf Jahre, also zwei Prozent pro Jahr, und das für Vermögen ab einer Million Euro. Die zusätzlichen Steuereinnahmen könnten in die frühkindliche Bildung, die Ausstattung öffentlicher Schulen und den öffentlichen Wohnungsbau investiert werden.

Der Paritätische Gesamtverband, der ebenfalls mit einer weiteren Verschärfung der Lage rechnet, verlangte bereits ein weiteres, fürsorgerisches Entlastungspaket der Bundesregierung: Grundsicherung, Wohngeld und BAföG seien bedarfsgerecht anzuheben und deutlich auszuweiten, um zielgerichtet und wirksam Hilfe für einkommensarme Haushalte zu gewährleisten. Anni W. formuliert die Forderung von #IchBinArmutsbetroffen kurz und knapp: „Nötig sind mindestens 725 Euro monatlich, wie vom Paritätischen berechnet.“

Veröffentlicht in „lautstark.“ 03/2023 und auf lautstark-magazin.de