Streetart – Grenze zwischen Kunst und Aktivismus verschwimmt

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Foto: Barbara

Adbusting, das Verfremden von Plakaten, ist vor Wahlen beliebt. Aus dem schwäbischen CDU-Politiker Fabian Gramling wurde so jüngst ein Gremlin, den Mainzer Johannes Klomann (SPD) rahmte eine Brille passend zum Namen. Doch auch ohne Wahlen feiert Plakatkunst derzeit ein Comeback.

von Nadine Emmerich

Adbusting, wie das Verfremden von Werbeplakaten heißt, hat sich einen festen Platz in der Streetart gesichert. Die Künstlergruppe Dies Irae verteilte in Freital bei Dresden Plakate mit Aufschriften wie „Nazis essen heimlich Falafel“, an Erfurter Bushaltestellen
platzierten sie AfD-Landeschef Björn Höcke als „nationalistischen Rattenfänger“.
In den sozialen Medien, vor allem auf Facebook, sind die Künstler damit extrem
erfolgreich. Die unter anderem in Heidelberg aktive Barbara hat mehr als 400.000 Fans,
weil sie Verbotsschilder verändert oder Sprüche wie „Wer nichts ist und wer nichts kann, der zündet Flüchtlingsheime an“ plakatiert. Das Leipziger Kollektiv Bei Nacht und Nebel verziert Wände mit „AfD wählen ist so 1933“-Postern. Plakatkunst mit politischen
Aussagen à la Klaus Staeck ist wieder angesagt.

Aktivisten nutzen Streetart

Der Grat zwischen Kunst und Aktivismus sei schmal geworden, sagt der Gründer der
Berliner Galerie Open Walls, Guillaume Trotin. Der Galerist ist Anhänger der Adbusting-
Bewegung. Gentrifizierung führe dazu, dass es immer weniger Platz für Graffitis und
Stencils gebe, kritisiert er. „Also beanspruchen Künstler jetzt Werbeflächen für sich.“ Die Streetartists von Dies Irae, bisher in rund 30 Städten aktiv und 2015 für den Amadeu-Antonio-Preis nominiert, sehen sich als Aktivisten, die sich der Kunst bedienen, um Statements auf die Straße zu tragen. „Politische Gruppen nutzen immer häufiger das Mittel der Streetart“, sagt der weibliche Kopf der Gruppe, zu deren Themen auch Frauen-, Tierrechte, Umwelt und Lobbyismus gehören.

Barbara formuliert ihre Motivation so: „Ich bin für ein tolerantes, herzliches und
weltoffenes Deutschland und versuche, meinen Teil dazu beizutragen – mit Worten auf
kleinen Zetteln und Plakaten.“ Auf eine Definition Künstlerin oder Aktivistin mag sie sich
nicht festlegen: „Ich mag es gerne minimalistisch und direkt“, sagt sie. Habe sie eine
Idee, dann sei „an jeder Ecke ein Copyshop“. Allen gemeinsam ist das Bestreben, den
öffentlichen Raum zurückzuerobern. Und Dies Irae wünscht sich einen „Adblocker für
Außenwerbung“.

Kritik an Kommerzialisierung

Der Künstlerische Leiter des Münchner Kunstvereins Positive-Propaganda, Sebastian Pohl, steht den aktuellen Entwicklungen auf der Straße skeptisch gegenüber. „Das Problem ist, dass in der heutigen Zeit alles Streetart ist“, sagt er. Nennenswerte Vertreter sind für ihn dagegen Pioniere wie Banksy und Shepard Fairey, Blu, Kripoe und NOName – und ihre Aktionen mit Blick auf Flüchtlinge in Calais oder Marokko.

Angesichts der derzeitigen Sprüche-Welle gibt er sich abwartend: „Ich bin gespannt, wo es hingeht. Nicht jedes Phänomen ist die neue Avantgarde.“ Er beobachte inzwischen „zu viele Leute, die etwas nur machen, um in einer Galerie zu landen“. Künstler haben für ihn jedoch „die Verantwortung, für eine Gesellschaft vorzudenken“ und „auf ein gesellschaftsrelevantes Thema aufmerksam zu machen“.

Dutzende Künstler bespielen urbane Bühnen

Wer den Maßstab gesellschaftspolitisch nicht so streng legt, für den bespielen Dutzende, in der Regel anonym agierende Streetartists die urbanen Bühnen – von Alias über Negative Vibes und Plotbot KEN bis zu Vermibus. In Mainz tobt sich seit einiger Zeit Vagabunt aus und macht beispielsweise aus Hausnummern Songtitel wie „99 Luftballons“ oder „Hero for 1 Day“. Schön bunt sollten seine Arbeiten sein und den Menschen Spaß machen, sagt Vagabunt schlicht. Aus dem Berliner Stadtbild sind derweil die Figuren von El Bocho, zu denen auch Tina Berlina mit ihren ironischen Tipps für Touristen zählt, nicht mehr wegzudenken. Auch El Bocho will vor allem „den Betrachter zum Schmunzeln bringen“.

Veröffentlicht auf heute.de am 19. März 2016.