Digital schneller lesen

Foto: Pixabay/CC0

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Schnell auf dem Smartphone durch die Facebook-Timeline scrollen, die Nachrichtenportale überfliegen, E-Mails lesen: Mit der Digitalisierung steigt die Zahl der Inhalte rasant. Im Kampf gegen die Informationsflut hilft möglicherweise nur mehr Tempo.

 

von Nadine Emmerich

Die Lesegeschwindigkeit verdoppeln, 1.000 statt 200 Wörter pro Minute lesen, 600 Seiten „Harry Potter“ nach einer Dreiviertelstunde zuklappen: Glaubt man den Versprechen von Schnelllesetrainings und -tools lässt sich das ruck, zuck lernen. Das schnelle Lesen abseits von Romanen ist zum Geschäft geworden. Die Kosten für das Erlernen der Kunst schwanken stark – von der App für 2,99 Euro bis zum Seminar für rund 1.000 Euro. So ungleich die Preise, so umstritten die Methoden. „Scharlatanerie“ ätzt es aus dem Turm der Wissenschaft.

Hype um Spritz

2014 machte die App Spritz Schlagzeilen, die einzelne Wörter hintereinander aufs Display spritzt. Die Augen können sich auf einen Punkt konzentrieren statt zu springen. Spritz kombiniert die bekannte Rapid-Serial-Visual- Presentation-Technik (RSVP) mit der Markierung des Optimal Recognition Point (ORP), des optimalen Lesepunktes, der an verschiedenen Stellen liegen kann.

Es gibt etliche ähnliche Apps – von Novellectual über ReadQuick bis Velocity. Trainingsanbieter sind laut der Deutschen Gesellschaft für Schnelllesen im deutschsprachigen Raum ungefähr 70 gelistet. Der Markt habe sich in den vergangenen Jahren „vervielfacht“, sagt der Vorsitzende Peter Rösler.

Testsieger für 2,99 Euro

Jüngst nahm Stiftung Warentest die Branche unter die Lupe – und kürte mit der „Schneller Lesen“-App für knapp drei Euro den billigsten Weg zum Blitzleser als den besten. „Schneller Lesen“ ist – anders als Spritz – ein Trainings-Tool. Das didaktische Konzept stammt von Holger Backwinkel und Peter Sturz, technisch umgesetzt wurde es von HeKu IT. Getestet wurden sechs deutschsprachige Trainings – vier E-Learnings und zwei Präsenzkurse.

Smarte Technologie oder fleißiges Training – was führt schneller ans Ziel? Spritz-Tester urteilten, die App funktioniere grundsätzlich. Die Expertenszene ist skeptisch. „Wie schnell man lesen kann, hängt nicht von der Art der Darstellung auf dem Bildschirm ab“, sagt Rösler. Bei Spritz gehe es um die Ausnutzung kleiner Displays.

Kaum seriöse Studien

Trotz des boomenden Marktes ist Schnelllesen – inklusive Textverständnis – eine
unerforschte Disziplin. Der Lesetechnik-Experte und Professor für Psychologie an der
Bergischen Universität Wuppertal, Ralph Radach, sagt: „Es gibt wenig verlässliche
Daten und kaum seriöse Untersuchungen.“ „Kontraproduktiv“ nennt er die Spritz-
Technik.

Sie behindere wichtige Elemente des Leseprozesses: die Blickspanne und das Zurückgehen im Text. Laut Radach lässt sich das Lesetempo vor allem durch zwei Dinge erhöhen: Die innere Stimme, die lautlos mitspricht, abschalten. Und Wörter nicht einzeln lesen, sondern in Sinneinheiten. „Die beste Methode ist ein gut strukturiertes Training mit normalem Textformat.“ Der Forscher räumt allerdings ein, auch die Wirkung spezifischer Trainings sei nicht bewiesen. „Vielleicht kann man den Leuten auch einfach sagen: Übt schneller lesen und dabei etwas zu verstehen.“

Schere zwischen Forschung und Markt

Radach kritisiert einen fehlenden Austausch zwischen akademischer Leseforschung
und Markt. Weder rezipierten die Autoren von Trainings die wissenschaftliche Literatur,
noch kümmere sich die Forschung um deren Anwendung. „Da ist Nachholbedarf.“
Ronny Hecker, Geschäftsführer von Heku IT, prognostiziert: „Das nächste große Ding
wird eine App sein, die Training und Technologie kombiniert.“ Natürliche Grenzen lassen sich aber auch damit nicht eliminieren: „Die verbale Intelligenz der Menschen ist unterschiedlich“, sagt Radach.

Infobox: Wie verarbeitet das Gehirn Buchstaben?

Geübte Leser lesen nicht Buchstaben, sondern Wörter: Um ein Wort zu erkennen,
müssen nur der Anfangs- und Endbuchstabe an der richtigen Stelle stehen, wie die
Kognitionspsychologin Sarah Risse vom Institut für Psychologie der Universität
Potsdam sagt. Grund dafür sind Buchstabendetektoren im Gehirn und ein effektiver
Wortsuchprozess im Gedächtnis, der auch auf der Basis von Teilinformationen
funktioniert. Beim Lesen entsteht durch Lichtreflexion ein Abbild einzelner Wörter
auf der Netzhaut, das vom Gehirn analysiert wird. Dazu werden Detektoren aktiviert,
die jeden Buchstaben identifizieren. Der Detektor für den ersten Buchstaben spielt
dabei die wichtigste Rolle. Entsprechend der aktivierten Detektoren sucht das
Gehirn dann im mentalen Lexikon das passendste Wort heraus.

Veröffentlicht auf heute.de am 23. April 2015.